Kolibris Tochter

Luis Alberto Urrea erschafft ein farbenfrohes Mexiko-Portrait und ein Marienwunder

Es gibt Bücher, die mich von Anfang an so faszinieren, dass ich sie nicht mehr aus der Hand legen kann und alles andere vernachlässige. Dieses Buch ist ein solches Exemplar - oder besser gesagt: war es, bis zu einem gewissen Punkt. Zunächst aber, was mich begeisterte: Urrea beschreibt die mexikanische Kultur und Landschaft in duftenden, bunten Worten.

Er stellt die Mexikaner (womit ich sowohl die Mestizen als auch die Indigenas meine) eines ländlichen Guthofs kunstvoll und authentisch als eine Gesellschaft dar, die sich ihrer eigenen Vergangenheit und Identität schämt:

Was waren sie? Jeder Mexikaner war ein verdünnter Indianer, dem Milch beigemischt worden war. [...] Nach der Eroberung durch die Spanier und der Inquisition hatten sie solchen Angst vor ihrer eigenen braunen Hülle, dass sie sich das Gesicht weiß puderten [...].

Ende des 19. Jahrhunderts, Porfirio Díaz ist Präsident, die Wirtschaft im Auf- und die Politik im Umschwung, in der Luft liegt die Ahnung von Revolution und Krieg.

Auf einem Gutshof im Bundesstaat Sinaloa wird ein Mädchen als Arbeiterkind geboren. Die sehr junge Mutter ist bald verschwunden, und so wächst das Mädchen, das sich selbst den Namen Teresa gibt, bei der prügelnden Tante auf. Doch Teresa ist nicht irgendein Mädchen - sie ist die uneheliche Tochter des schönen und reichen Gutsbesitzers Tomás Urrea, der leidenschaftlich gerne auch außerhalb seines Ehebetts Frauenschöße aufsucht. Teresa wächst zu einer schönen jungen Frau heran, die mit ihrer Fähigkeit durch Handauflegen Schmerzen zu lindern, bald zu großem Ruhm unter den schwangeren Arbeiterfrauen kommt ...

Vor meinem geistigen Auge entwickelte sich bereits eine blumige Geschichte mit politischen Verwicklungen, ein ähnlicher Plot wie in Isabel Allendes Geisterhaus, wo sich zwischen der Gutstochter Clara und dem Arbeitersohn Pedro Tercero García eine dramatische Liebesgeschichte entwickelt. Es ist das Bild, das Luis Urrea dem Großteil der Geschichte zugrunde legt: Mädchen (Bastard) kommt schließlich doch noch zu ihrem Geburtsrecht, wird sehr hübsch und ungestüm, sehnt sich nach der ersten Liebe.

Ich rutschte ganz unvorbereitet in eine sehr seltsame Entwicklung hinein: eines Tages wird Teresa vergewaltigt, stirbt und ist tagelang klinisch tot - um dann mit einem Mal wieder aufzuerstehen, mit voll entwickelten heilerischen Fähigkeiten und der Stimme Gottes im Ohr. Eine Jungfrauerscheinung ist geboren. Und dann wird es doch noch politisch: die körperlich erkaltete (weil tot gewesene!) und entrückte Teresa mischt sich zum Wohle ihres Volkes in die aufkeimende mexikanische Revolution ein.

Ich verlor seit der Auferstehung und dem Zusammenwurf des bisherigen Plots meine große Freude an diesem Buch. Zu offensichtlich erschien es mir, dass Luis Alberto Urrea seiner entfernten Ahnin (sein Urgroßvater war Cousin von Tomás) ein makelloses Denkmal zu setzen wünschte. In die bisherige Geschichte, die fast aussschließlich innerhalb des Gutshofs spielt, platziert Urrea sehr unmittelbar ein Marienphänomen, das globale Ausmaße annimmt und - in meinen Augen - sowohl die Geschichte als auch die Protagonistin Teresa ein Stück weit ihrer Glaubwürdigkeit beraubt.

Lässt man das mal außer Acht, so hat Urrea in den ersten beiden Dritteln des Buches eine wunderschöne Liebeserklärung an Mexiko geschrieben (mit vielen eingestreuten mexikanischen Groserias - wer mexikanisches Spanisch beherrscht, hat umso mehr Freude) und eine facettenreiche Geschichte erdacht: über ein tapferes Mädchen und einen ehrbaren Mann, der die väterliche Liebe zu seiner Tochter entdeckt.

Kolibris Tochter
Veröffentlicht:
Medium:
Buch
Autor:
Luis Alberto Urrea
Verlag:
Pendo
Kommentar:
Von mexikanischem Familiendrama zu Marienerscheinung
ISBN:
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Gemacht mit

corazon

von Lene Saile